Nachruf für Thilo von Trotha
(20.4.1960 – 16.3.2009)
Das Weglaufhaus und der Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. trauern um Thilo von Trotha.
Nach seinem Philosophie-Studium in Freiburg und Berlin hat Thilo von Trotha das Weglaufhaus mit konzipiert, jahrelang für seine Realisierung gekämpft und es mit gegründet. Seit der Vereinsgründung (1989) war er langjähriges Vereinsmitglied und von 1998 – 2002 arbeitete Thilo im Weglaufhaus.
Er hat unser Projekt und die neue Antipsychiatrie- und Psychiatrie-Betroffenenbewegung in Deutschland in entscheidender Weise geprägt und gefördert.
Thilo war ein kluger und scharfsinniger Denker. Seine Texte sowie seine theoretischen und praktischen Impulse haben unsere Arbeit bereichert und vorangebracht.
Seine Warmherzigkeit, Kraft und Beharrlichkeit haben vielen Menschen, die im Weglaufhaus und im Verein Unterstützung suchten, Mut und Zuversicht gegeben und ihnen auf ihrem Weg geholfen. Auch unter widrigen Umständen hat Thilo sich immer sehr für die BewohnerInnen eingesetzt. Er hatte sehr viel Raum, Verständnis und Toleranz für Menschen in schwierigsten Lebenssituationen und verrückten Zuständen. In unseren Auseinandersetzungen haben wir viel von ihm gelernt und die antipsychiatrische Praxis gemeinsam weiterentwickelt.
Mit seinem unerschöpflichen Engagement und seiner Großherzigkeit hat er uns tief beeindruckt und viele Menschen, BewohnerInnen und KollegInnen, nachhaltig unterstützt.
Sein Tod bestürzt uns sehr, macht uns hilflos und traurig. Thilo wird unvergessen bleiben und fehlt uns.
Iris Hölling für den Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. und das Weglaufhaus
Zur Geschichte des Weglaufhauses
Statt die Geschichte einzelner aktiver Menschen darzustellen, denn die Geschichte des Projektes lässt sich auch als deren Geschichte erzählen, ist es uns hier wichtiger, die Geschichte des Weglaufhauses einzubetten in zeitgeschichtliche Entwicklungen. Allerdings ist die Realisierung des Weglaufhauses das Verdienst eines langjährigen großen Einsatzes und Engagements aktiver Betroffener und Nichtbetroffener. Viele Menschen haben, in den unterschiedlichsten Positionen, in dieses Projekt viel Zeit und Energie ihres Leben investiert.
Ursprünge der Anti-Psychiatrie-Bewegung reichen ins 19. Jh. zurück, diesseits und jenseits des Atlantiks.
Ende der sechziger Jahre: Betroffene organisieren sich, zeitgleich mit den Studentenbewegungen, in USA und Europa.
Theoretische Überlegungen von psychiatrischer und philosophischer Seite (Foucault, Deleuze) sowie praktische Umsetzungen seit den fünfziger Jahren:
Kingsley Hall in England (R.D. Laing, D. Cooper, 1965 – 1970),
Soteria in Kalifornien (L. Mosher, 1973 – 1985),
Psychiatrie-Reform in Italien (F. Basaglia).
Gründung von Betroffenenorganisationen national und international (z.B. BPE, ENUSP, WNUSP).
In den siebziger Jahren entstanden in den Niederlanden sogenannte Wegloophuiser, angeregt durch die Gekken-Bewegung. Diese dienten initial zum Vorbild des in Berlin umgesetzten Weglaufhauses „Villa Stöckle“.
Anfang der achtziger Jahre erlebten die sozialen Bewegungen, die ihren Ursprung in der 68-Bewegung hatten, in der BRD einen neuen Aufschwung. In West-Berlin war unter anderem die Hausbesetzerszene sehr aktiv. Hier fanden auch Psychiatrie-Betroffene, die anfingen, sich zu organisieren, Anknüpfungspunkte.
1980 Gründung der Irren-Offensive, West-Berlin
Betroffenorganisation und Selbsthilfe, Öffentlichkeitsarbeit und politische Aktionen für die Rechte von Psychiatrie-Betroffenen, Aufklärung über Schädigungen durch Psychopharmaka, Unterstützung und Beratung Betroffener. In Rahmen der Arbeit in der Irren-Offensive wurden viele praktische Erfahrungen mit Selbsthilfe und gegenseitiger Unterstützung gemacht, die später in die Konzeptionierung des Weglaufhauses einflossen.
1982 Kongress in Amsterdam, Besuch eines Weglaufhauses, Idee der Realisierung dieses Konzeptes
1986 Gründung der Weglaufhausgruppe innerhalb der Irren-Offensive
1989 Gründung des Vereins zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. aus der Weglaufhausgruppe heraus
Trennung von der Irren-Offensive aufgrund von Unstimmigkeiten über die Einbindung von Nicht-Betroffenen im zukünftigen Weglaufhaus.
Zweckspende für einen Hauskauf in Höhe von einer Million Mark.
Plan zur Eröffnung des Weglaufhauses in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung, allerdings zerbricht diese Koalition Ende 1990, wenige Tage vor der geplanten Freigabe der Gelder für das Weglaufhaus
In der Folge Versuche, das Projekt überwiegend aus Spenden (Patenschaften) zu finanzieren. Dies ergibt zwar erhebliche Resonanz, aber nicht genug. Gründung von Gremien aus allgemein anerkannten fachlichen Autoritäten: Beirat und Beratendes Gremium.
1990 Kongress von FAPI (Forum antipsychiatrischer Initiativen)
1991 Ablehnungsbescheid des Senats – Ressort Gesundheit
In der Folge Versuch, das Projekt über die Träger der Sozialhilfe, Wohnungslosenhilfe zu finanzieren
1990 Kauf des Hauses in Berlin – Frohnau
Es folgen zähe Jahre im „Verordnungsdschungel“ der Stadt und des Stadtbezirks und laufende Arbeit an der Konzeptionierung
1995 Einladungen an die Nachbarschaft, um das Projekt bekannt zu machen, offenbaren teilweise starke Ablehnung und wüste Bedrohungsszenarien
1995 Name des Hauses „Weglaufhaus – Villa Stöckle“ nach der verstorbenen Mitinitiatorin Tina Stöckle
1.1.1996 Beginn des Betriebes des Weglaufhauses als Teil der Wohnungslosenhilfe, Tagessatzfinanzierung nach § 72 BSHG (seit 1.1.2005 nach §§ 67 ff SGB XII), 13 Plätze, Frauenetage:
Anti-psychiatrische Orientierung, Alternative zur Psychiatrie, Unterstützung beim Absetzen von Psychopharmaka, keine Diagnosen, Transparenz,
Mitarbeit von mindestens 50 % Psychiatriebetroffenen im Team,
Praxis des aus der Soteria übernommenen Konzeptes des Dabei-Seins in Krisen, Unterstützung im Alltag und bei behördlichen, rechtlichen, finanziellen und Wohnangelegenheiten, rund um die Uhr.
2000 Schaffung des Leistungstyps Kriseneinrichtung für die Wohnungslosenhilfe in Berlin, Einordung des Weglaufhauses hierunter
seit 2002 Vereinsräume in der Auguststrasse in Berlin- Mitte
2002 Start des Projektes Support – anti- und nichtpsychiatrische Einzelfallhilfe nach §§ 39, 40 BSHG (seit 1.1.2005 § 53 SGB XII) im Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V.,
2003 Start des Filmforums, Freizeit-, Kultur- und Kontaktangebot im Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V., unterstützt von Faf e.V.
2003 Kongress „Armut und Gesundheit“, Forum Antipsychiatrie, in Berlin
2004 Fachtag „Betroffenheit und Professionalität“, Broschüre „Betrifft Professionalität“ gemeinsam mit den Projekten Tauwetter und Wildwasser,
2004 „Ingeborg-Drewitz-Preis“ der Humanistischen Union
- Teilnahme der Mitarbeiter*innen an nationalen und internationalen (Fach-)Tagungen, Kongressen und Konferenzen
- Projektvorstellungen/Vorlesungen für Professionelle, Betroffene, Studierende; Vorträge, Workshops, Weiterbildungen
- Mitgliedschaft in Betroffenenverbänden den ENUSP und WNUSP, sowie einzelner MitarbeiterInnen im BPE und in der Berliner BOP&P
- Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband, Fachgremien, Arbeitskreisen, und Arbeitsgruppen regional und überregional (ÜPSAG), aktive Mitarbeit im AK Wohnungsnot
- Unterstützung anderer Weglaufhausinitiativen in Deutschland (durch Praktika, gemeinsame Veranstaltungen, Projektpräsentationen, Information)
- Veröffentlichungen von MitarbeiterInnen
- Politische Aktivitäten, z.B. zum Betreuungsrecht 2003, 2004
- Diverse Bücher, Filmbeiträge, Film, Hörspiel, Radiobeiträge, Zeitungsartikel, u.a.:
Buch „Das Weglaufhaus“ von Uta Wehde (1991)Buch „Flucht in die Wirklichkeit“, herausgegeben von Kerstin Kempker (1998)Hörspiel „Zwischenraum“ von Caspar Abocab (2001)Sonderheft „Antipsychiatrie“ der Zeitschrift für Systemische Therapie, herausgegeben von Karin Roth (2001)Film „Fluchtpunkt Wirklichkeit“ von Christine Mast (2001)
2006
Aus Anlaß des 10-jähriges Bestehen des Weglaufhauses im Januar 2006 Party im „Festsaal Kreuzberg“ und im April 2006 Empfang (Ansprachen als PDF) in der „Villa Stöckle“, unter den Gästen die Berliner Gesundheits- und Sozialsenatorin Knake-Werner.
Mai bis August 2006 umfangreiche Sanierungsarbeiten an der „Villa Stöckle“.
2007 Eröffnung der Antipsychiatrischen Beratungsstelle im Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V.
Seit 1996 mehr als 700 Bewohner*innen, davon mehr als die Hälfte ohne Psychopharmaka im WLH, enger Kontakt mit den BewohnerInnen oftmals über die Aufenthalte hinaus, Anfragen aus ganz Deutschland.